ANKE WOGERSIEN
A u t o r i n

Leseprobe Roman


 
 
 
 
 
 

Sie zielen auf mein Herz,
damit ich falle 
 
 
 
 
 
 
 
Roman
 
 




 
 
 
 
PROLOG

         

Er war ein Einzelgänger. In die Kreuz und Quere gelaufen, schnürte er durch dichtes Gebüsch und bewegte sich in der Karstlandschaft vorwärts. Beharrlich hatte er verhofft und gelauscht. Vergebens, er blieb allein. Nur der hohle Wind sauste in seinem Gehör. Der einsame Wolf hatte nicht den Lockruf einer Fähe vernommen, nicht ihre Fährte, obwohl er mit tiefer Nase weithin suchend die Felder abjagte. Alles, was er in die Nase bekam, war der herbe Duft der Erdschollen und ein starker Rehgeruch.
Seine Augen durchdrangen das Unterholz. Sein Gescheide zuckte, seine Flanken bebten und seine Begierde, ein Stück Wild zu erbeuten, wuchs. In der Nähe schrie ein Käuzchen. Die alten Tannen des Harzes klagten. Er trabte zuversichtlich dem neuen Ziel zu. Viele Kilometer legte er in dieser kalten Nacht zurück, doch kein gütiges Geschick lenkte seinen Weg. Ungewöhnliche Laute ließen den Dreijährigen aufhorchen: Menschen. Er sah die Flatterbänder rundherum.
      »Hüte dich, Solo, dir droht Gefahr!«, wisperte Silva. Es schien, als hätte der Jungwolf sie verstanden. Erschrocken duckte er sich, anstatt davonzulaufen und zu jagen, was seine Läufe hergeben. Er wusste nicht, wohin. Das war sein Verderben. Er verharrte hinter dem Findling im dunklen Wald. Seine Tierseele war traurig. Am Ende trat er auf die langgestreckte Lichtung. Der Wolf glaubte, er müsse sich nur verteidigen. Im nächsten Augenblick begriff er: Seine Welt verlosch. Dieser Ort bot keinen Ausweg. Es war hoffnungslos. Wie sollte er sich wehren? Sie hatten ihn gestellt.
       Sie haben Angst, ich werde sie erwischen, die feigen Schützen! Er erinnerte sich an seinen langen Lauf über die weite Ebene. Er hatte Zäune durchbrochen, die grüne Grenze überquert. Er heulte auf. 
       Ich werde nicht zittern vor diesen Figuren! Ich werde sie und ihre Hunde ergreifen und drehen lassen wie die Sonne. Es klickte. Ein Polizeibeamter entsicherte seine Schusswaffe. Es gab kein Entrinnen.
      Sie zielen auf mein Herz, damit ich falle.  
Verflucht war jener Tag, an dem alles begann.


 

1. Kapitel

 

An diesem Tag war der Brocken nicht zu sehen. Der Himmel scheiterte kläglich in seinem Bemühen, Farbe zu bekennen. Schon seit zwei Wochen hing ein weißer Schleier über dem Gipfel des 1.142 Meter hohen Bergs und verhüllte das unverkennbare Wahrzeichen des Harzes. Es herrschte das für den mitteldeutschen Frühling typische Nichtwetter. Vom Morgen bis zum Abend zogen voneinander kaum zu unterscheidende Wolkenfelder durch. Nachts gingen wiederholt Regengüsse nieder. In der Frühe, wenn man, den böigen Wind im Ohr, erwachte, waren die Waldwege von Nässe durchtränkt. Das schwarze Gezweig der Bäume glänzte.
       Während noch Morgenkälte und Dämmerung in den Ästen hingen, begannen die Arbeiter des Forstbetriebes Oberharz ohne Hast mit der Arbeit. Mit ihrem achträdrigen Rückezug bewegten sie die dicken Baumstämme. Das Motorengeräusch zersägte ihre Müdigkeit und den sie umgebenden Nebel. Die schweren Maschinen hinterließen breite Spuren im schlammigen Boden.
       »Hierher!« Aus tiefer gelegenem, kaum zugänglichem Gelände schleppten die Männer das Holz mit Hilfe von Seilwinden ab. Sie verrichteten bereits einige Stunden ihren Dienst, als Gesellschaft nahte.
       »Morjen, Männer! Wie war das Wochenende?«, begrüßte Revierleiter Stefan Wildhage seine Waldarbeiter.
       »Wie immer zu kurz. Dach ok, Chef!« Arbeiter Werner Brennecke salutierte mit zwei Fingern am Schirm seines signalroten Kunststoffhelms.
       »Wie sieht’s aus? Kommt ihr voran?«
       »Nu, wie soll’s aussehen, wenn man an einem nasskalten Morgen stundenlang Bäume rückt?«
       »Bescheidenes Aprilwetter, nicht wahr?«
       »Wir arbeiten uns warm!« Umständlich zog Werner seine Schutzhandschuhe aus, schob den Helm in den Nacken und wischte sich über die schweißnasse Stirn.
       »Petrus hat montags keine Lust!« Wildhage wies nach oben.
       »Ach, nee! Ich dachte, im Himmel gibt‘s nur Sonntage.« Werner grinste. »Sehen Sie sich diesen Kaventsmann an, Chef! Den haben wir am Freitag abgeschnitten.« Er zeigte auf den vor ihnen liegenden Fichtenstamm. Die Holzfäller waren im öffentlichen Dienst angestellt. Die Weisungs- und Lobbefugnis oblag dem Revierleiter. Werner hoffte auf Anerkennung. Wildhage tat ihm jedoch nicht den Gefallen.
       »Ein Wunder, dass dieser Baum noch gestanden hat bei achtzig Prozent Rotfäulepilzen auf der Schnittfläche!« Der Förster besah sich den Stamm.
       »Stimmt, Chef.« Brenneckes Kollege Ingo Holtkamp gesellte sich zu ihnen. Stefan Wildhage nickte ihm zu.         »Morjen!« Die Männer gaben sich die Hand.
       »Der Fichtenbestand hat durch den Sturm gelitten.«
       »Richtig, Chef.«
       »Wie auch immer. Dieser minderwertige Stamm bringt uns fünfundachtzig Euro pro Festmeter. Bei zweieinhalb Kubikmeter sind das, lasst mich rechnen …«
       »… zweihundertzwölf Euro.« Ingo Holtkamp war ein Morgenmensch.
       »Genau.« Förster Wildhage tätschelte das dicke Holz. Er schätzte Waldarbeiter, die sich nicht zu Dschungelkönigen aufschwangen, sondern mitdachten.
       »Nu, das ist nicht üppig, Chef. Die Fichten sind durch Windwurf und Schneebruch geschwächt. Wehe, uns sucht der Borkenkäfer heim …« Werner Brennecke rieb sich das Kinn. Im praxisorientierten Ratgeber Körpersprache hatte er gelesen, das sei die typische Geste eines nachdenklichen Experten.
       »Diesen Schädling rufen wir besser nicht herbei! Ihr macht einen ordentlichen Job, Männer!«, lobte Wildhage sie endlich. »Passt auf bei dem Wetter! Ich würde euch ungern nach Hause schicken. Es soll windig werden.« Baumfällung war eine lebensgefährliche Tätigkeit. Der Stamm wurde zur Hälfte angeschnitten. Es konnte gut sein, dass er in einem unerwarteten Moment umkippte, in eine Richtung, die der Baum befahl und nicht der Mann an der Säge.
       »Übrigens, es gibt demnächst tatkräftige Unterstützung!« Der Förster lachte in die verdutzten Mienen.
       »Das hört sich gut an. Kommt endlich ein dritter Mann zur Verstärkung?« Aus Werners Stimme klang die Hoffnung auf Arbeitsentlastung. Dieser Wochenstart hatte das Zeug zum Guten: Ein Lob und die Aussicht auf einen zusätzlichen Arbeiter.
       »Richtig geraten! Ich hab beim Landesforstbetrieb Sachsen-Anhalt angefragt, ob sie einen Praktikanten von der Hochschule Wernigerode finanzieren können. Er kann uns bei der Umstellung auf die neue Software helfen. Bevor er mit der Installation und Einweisung in das neue Programm beginnt, soll er unsere Arbeit kennenlernen.«
       »Aha.« Die Euphorie verschwand schlagartig aus Werners Stimme.
       »Was dagegen, Brennecke?« Wildhage sah ihn prüfend an.
       »Wenn Sie mich schon fragen, Chef: Ich hab die Faxen dicke von blutleeren Möchtegernforstleuten. Die machen sich zum Zeitvertreib während des Studiums einen Lenz im Wald.«
       »So schlimm?« Wildhage lächelte sanft.
       »Nu, in den meisten Fällen erweisen sich die Jungspunde als Klotz am Bein und behindern den Fortgang unserer Arbeit.«
       »Dann muss man sie mehr rannehmen.«
       »Ach was! Akademiker sind Großmäuler. Denken, sie gehören zur intellektuellen Oberschicht und es ist ein Privileg, mit ihnen zu verkehren. Beim Holzschlagen kriegen sie Angst.« Werner spuckte auf den Waldboden. Er begegnete dem durchdringenden Blick des Försters und zuckte mit den Achseln.
       »Hauptsache, der Bursche kann ordentlich anpacken! Auf keinen Fall werde ich aus Ehrfurcht vor einem Studierten ins mollige Moos sinken. Mit unbequemen Querköpfen wird man am besten fertig, indem man sie an sich heranlässt und zu Konvertiten macht.« Der Forstarbeiter verhehlte nicht, dass er mit diesem Teil der Gesellschaft ungern zu tun hatte.
       »Was heißt das?«
       »Nu, der Eifer dieser Kerle garantiert, dass sie schnell ihre Unkenntnis zeigen. Außer Theorie steckt nichts dahinter.« Werner grinste.
       »Woher willst du wissen, dass es ein Kerl ist, Brennecke?« erwiderte Wildhage mit fröhlichem Gesicht.
       »Nee, das ist nicht Ihr Ernst, Chef! Eine Frau?« Werner schwitzte. Befürchtungen und Hoffnungen brachten zeitgleich sein Blut derart in Wallung, dass er meinte, sämtliche Routenplaner hätten den Äquator in den Oberharz verlegt. »Nicht, dass ich etwas gegen weibliche Reize einzuwenden habe. Ich bin mit Ende fünfzig schließlich nicht jenseits von Gut und Böse.« Er streichelte sich mit der Rechten über seinen Scheitel.
       »Vorsicht, Kollege, du hast vor kurzem Silberhochzeit gefeiert«, erinnerte ihn Ingo. »Ich glaube, Chef, mit der Ruhe beim Arbeiten ist’s vorbei, wenn eine Praktikantin den Forstdienst antritt.« Ingo zwinkerte dem Förster zu.
       »Waldarbeit ist keine Frauenarbeit!«, warf Werner ärgerlich ein.
       »Es wird natürlich zunächst ein wenig Anleitung notwendig sein.« Förster Wildhage nickte. »Ich zähle auf meine Leute. Kümmert euch bitte!«
       »Ist nicht das erste Mal, Chef. Sie können sich auf uns verlassen!« Ingos Gedanken rotierten. Wildhage hatte sich bemüht, ihnen die Praktikumsbetreuung schmackhaft zu machen. Die Sache war entschieden. Warum diskutieren? Sie mussten das Beste aus der Situation machen.
       »Mensch, Werner, das haben wir bisher immer hingekriegt, das klappt schon.« Er klopfte seinem Kollegen auf die Schulter.
       »Übernächste Woche geht’s los!«
       »Alles klar. Übrigens, falls der Wolf Guten Tag sagt, machen wir ein Selfie!«, meinte Ingo.
       »Der Wolf kommt hier nicht vorbei.« Stefan Wildhage hob den Zeigefinger: »Wölfe sind scheue Tiere.«
       »Ach, wirklich? Rainer Klapproth ist bei Benneckenstein eine außergewöhnliche Aufnahme gelungen. Ich kenne ihn aus dem Schießclub, er ist Jäger, kommt aus Wernigerode und hat einen Wolf fotografiert«, wusste Werner Brennecke zu berichten. »Richtung Rothesütte ist er dem Wolf begegnet.«
       »Ja, richtig, er hat’s mir erzählt.« Stefan Wildhage kannte den Bauer. »Am Dreiländereck war‘s. Klappi saß auf dem Hochsitz und war verwundert, dass sich in der Nacht kein Rehwild blicken ließ. Seit dreißig Jahren geht er auf die Jagd und seit drei Jahren im Dreiländereck.«
       »Und weiter? Spannt mich nicht auf die Folter!«, drängelte Ingo.
       »Nu, statt einem Rehbock saß ein Wolf zwischen den Fichten. Er hat ihn fotografiert und das Bild an die Harzstimme geschickt. Seitdem ruft ihn alleweil ein Journalist an und will mit ihm palavern«, sagte Werner.
       »Du liebes Lieschen!«
       »Neulich stand sogar einer aus Magdeburg vor seiner Tür. Je wortkarger er sei, desto stärker stachele das die Phantasie der Reporter an, meint Rainer. Die Schilderungen über Wolfssichtungen würden immer sensationeller.«
       »Da sei der liebe Herrgott vor! Ich hab’s nicht mit aufdringlichen Schreiberlingen.« Der Förster schüttelte sich.
       »Jedenfalls hat der Bürgermeister Wind von der Sache bekommen und uns Schützen neulich einen Besuch abgestattet. Er meint, wir sollen nicht drüber reden. Das ist schlecht für den Fremdenverkehr. Die Touristen bleiben weg.«
      »Dann behalten wir es für uns.« Förster Wildhage warf einen Blick auf sein Mobiltelefon. Es gab eine elektronische Nachricht aus dem Rathaus. Bitte um Rückruf. König. Er tippte an seinen Hut.
      »Ich will los. Wünsche frohes Schaffen!« Wildhage stieg in seinen Range Rover und ließ den Motor an.
Die Waldarbeiter blickten dem Geländewagen hinterher.



 
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